Am 22. Mai 2016 fegte ein Gewittersturm über das Paderborner Land. Durch den Sturm wurde ein Windrad nahe der B68 zerstört, wie die „Neue Westfälische“ berichtete. Wie dem Zeitungsartikel zu entnehmen ist, äußerten sich Experten skeptisch zur Aussage des WKA-Betreibers, die Anlage sei während des Sturms abgeschaltet gewesen. Die Schülerinnen und Schüler zweier Physik-Oberstufenkurse des Goerdeler-Gymnasiums (Grundkurs EF und Leistungskurs Q1) nutzten nun den spektakulären Anlass, um ihre Kenntnisse der Kinematik anzuwenden und mögliche Details der Havarie zu berechnen, um die Aussagen des Betreibers auf Plausibilität zu prüfen.
(Bilder (c) Marc Köppelmann, mit freundlicher Genehmigung der „Neuen Westfälischen„)
Die Kurse analysierten die Fotos des NW-Berichts und kommen auf deren Basis zu dem Schluss, dass es als wahrscheinlich anzusehen ist, dass die Anlage während des Sturms in Betrieb war und aus irgendeinem Grund schlagartig arretiert hat.
Folgende Annahmen lagen der Untersuchung zugrunde:
- Der Rotor dreht sich bei Betrieb im Uhrzeigersinn.
- Ein Rotorblatt der Anlage ist nicht abgebrochen, hat aber einen Knick, der so entstehen kann, wenn die Nabe schlagartig stehen bleibt.
- Die beiden anderen Rotorblätter sind durch das abrupte Stehenbleiben abgebrochen und entsprechend normaler Wurfparabel-Kinematik „weggeflogen“. Die Annahmen gehen davon aus, dass der Wind die Flugbahn nur unwesentlich beeinflusst hat, da der abgebrochene Rotorteil hohe Masse besaß und seine aerodynamischen Merkmale durch den Bruch stark beeinträchtigt waren.
- Betrachtet wurde das Rotorblatt, das 100m weit entfernt gefunden wurde. Es wurde angenommen, dass dieses nahezu exakt in der senkrechten Stellung nach oben abbrach, wie auf dem Foto zu sehen.
- Der Generator, der ebenfalls auf der Nabe sitzt, ist nach rechts aus der Kanzel geschleudert worden, wie das Loch auf dem Foto der Kanzel zeigt.
Aus dem Nachrichtentext ist zu entnehmen, dass die Nabe sich in ca. 50m Höhe befindet und ein Flügel ca. 25m lang ist. Unter der Annahme, dass der Schwerpunkt des Flügels aufgrund seiner Form sich in ca. 10m Abstand von der Nabe befindet, ergibt sich eine Fallhöhe von ca. 60m.
Die Zeit bis zum Aufprall des Flügels auf dem Boden lässt sich gemäß der Annahmen auf ca. 3,50s berechnen. Das abgebrochene Rotorblatt wurde in ca. 100m Entfernung zur WKA gefunden. Damit das Blatt in der berechneten Flugzeit von 3,50s eine Strecke von 100m (horizontal) weit fliegen kann, muss es eine horizontale Anfangsgeschwindigkeit von 28,59 m/s oder 102,9 km/h gehabt haben. Diese Geschwindigkeit wird durch die Drehung des Rotors genau dann erreicht, wenn er eine Umlaufdauer von 2,20s besitzt.
Diese Umlaufdauer dürfte für ein Windrad dieser Größe zwar sehr schnell, aber immer noch im typischen Rahmen sein.
Nach diesen Berechnungen liegt der Umkehrschluss nahe, dass die Anlage sich während des Sturms mit der genannten Rotationsgeschwindigkeit gedreht hat, denn die angenommene Flugbahn und Fallzeit des Rotorblatts passen zu typischen Betriebsparametern einer WKA dieser Größe. Möglicherweise ist während des Sturms in der Kanzel ein bewegliches Teil heißgelaufen und sorgte für das schlagartige Stehenbleiben des Rotors, was auch die Brandspuren erklären könnte. Anzumerken ist noch, dass die Rechnung nicht berücksichtigt, dass das Abbrechen des Rotorblattes dessen Anfangsgeschwindigkeit um Einiges verlangsamt haben muss. Würde man diese Tatsache in die Rechnung noch mit einbeziehen, ergäbe sich eine höhere Anfangsgeschwindigkeit, was die These vom „vom Wind abgebrochenen“ Rotorblatt noch unwahrscheinlicher macht.
Ebenso gehen die Berechnungen davon aus, dass das Blatt bei maximaler Anfangshöhe abgebrochen ist, seine Fallzeit also schon recht lang war. Eine maximale Flugdauer und „Wurfweite“ hätte sich allerdings ergeben, wenn der Rotor kurz vor seiner senkrechten Stellung, im Winkel von 45°, abgebrochen wäre. In diesem Fall hätte sich eine Umlaufdauer von 2,5s berechnet, was nur unwesentlich vom unter den vereinfachten Annahmen berechneten Wert von 2,20s abweicht.
Umgekehrt halten es die Jung-Physikerinnen und -Physiker für sehr unwahrscheinlich, dass der Wind die tonnenschweren Rotorblätter abgebrochen und auf die genannte hohe Anfangsgeschwindigkeit von ca. 100km/h beschleunigt haben soll. Bei einer anzunehmenden Masse von etlichen 100kg des abgebrochenen Rotorteils wären hier Kräfte vonnöten gewesen, die der Wind bei den aufgetretenen Windgeschwindigkeiten nicht aufbringen kann.
Für Interessierte hier die vollständige Rechnung:
Udo Hilwerling, Juni 2016