„Die Welt aber bitte ich, unser Märtyrerschicksal als Buße anzunehmen für das deutsche Volk“
Das Städtische Neusprachliche Gymnasium für Jungen und Mädchen in Entwicklung wurde mit zwei Klassen im September 1967 eröffnet. Neben den anderen Gymnasien in Paderborn war diese Schule das erste koedukative Gymnasium der Stadt. Zunächst begann der Schulbetrieb in Pavillionbauten an der Erzbergerstraße. Nachdem einige Jahre die Räume der Lutherschule am Abdinghof genutzt wurden, konnte am 16. August 1971 der Schulneubau an der Goerdelerstraße bezogen werden. Im allgemeinen Sprachgebrauch setzten sich schnell die Begriffe „Gymnasium an der Goerdelerstraße“ oder „Goerdeler-Gymnasium“ durch. So erhielt die Schule dann Ende 1972 ihren Namen nach dem Widerstandskämpfer im Nationalsozialismus Carl Friedrich Goerdeler.
In einem Dorfgasthaus nahe der ostpreußischen Stadt Marienwerder erkannte am Morgen des 12. August 1944 eine Luftwaffenhelferin den mit Zeitungsfoto gesuchten Carl Goerdeler und verriet ihn. Der 60jährige war seit 24 Tagen auf der Flucht, ohne falsche Papiere, zuletzt mit Rucksack und Wanderstock, erschöpft, resigniert und am Ende ziellos. Wohl kein Ort erscheint als Fluchtpunkt auch ungeeigneter als gerade Marienwerder, wo die Familie Goerdeler seit 1890 gelebt hatte und weithin bekannt war. Im engmaschigen Fahndungsnetz des totalitären Polizeistaates geschah die Entdeckung mit einer gewissen Zwangsläufigkeit, aber ohne Zweifel hatte sich der Flüchtling auch selbst durch die Planlosigkeit der Flucht und sein unvorsichtiges Verhalten gefährdet.
Goerdeler entsprach nicht dem Bild, das man gemeinhin vom Typus des politischen Untergrundkämpfers hat. Zeit seines Lebens blieb er ein Mensch bürgerlich-konservativen Zuschnitts. Als Sohn einer preußischen Juristen- und Beamtenfamilie wurde er in den entscheidenden Entwicklungsjahren von den Erziehungsvorstellungen der Kaiserzeit geprägt, von „einem Nationalismus enger Art“, wie er selbst im Rückblick urteilt. Erst als fast Fünfzigjähriger begann er, die überkommenen Vorstellungen von unbedingter Gesetzestreue und Staatsloyalität in Frage zu stellen.
Dann jedoch wurde er zu einer der führenden Persönlichkeiten im Zentrum des deutschen Widerstandes gegen Hitler. Die Verschwörer, die das Attentat vom 20. Juli 1944 vorbereiteten und die Beseitigung der NS-Herrschaft anstrebten, waren sich in ihren politischen Vorstellungen keineswegs einig, konnten sich aber auf Goerdeler als zukünftigen Reichskanzler verständigen. Als den Nazis nach dem misslungenen Attentat die von Goerdeler verfasste Kabinettsliste in die Hände fiel, setzten sie auf seine Ergreifung die damals ungeheure Summe von einer Million Reichsmark aus.
Wie verlief der politische Werdegang dieses Mannes?
Nach einer Karriere in der Verwaltung wurde Goerdeler 1930 Oberbürgermeister von Leipzig und außerdem zum Reichspreiskommissar berufen. Als 1933 die SA auch in Leipzig jüdische Geschäfte plünderte, gehörte er zu den wenigen, die sich den Gewalttätern persönlich auf der Straße entgegenstellten. Auch wehrte er sich erfolgreich dagegen, dass die Hakenkreuzfahne auf dem Rathaus gehisst wurde, solange sie noch nicht offizielles Staatssymbol war.
Aber wie viele Konservative täuschte er sich am Anfang in Hitler und konnte nicht erkennen, dass die Maßnahmen der NS-Regierung den systematischen Ausbau des diktatorischen Unrechtsstaates bedeuteten. Jedenfalls diente er dem Regime 1934/35 als Reichspreiskommissar. Offenbar glaubte er noch, aus dem Inneren des Systems heraus gegen die Wirtschafts-, Kultur- und Rassenpolitik wirken zu können.
Im Sommer 1936 wurde Goerdeler auf 12 Jahre zum Oberbürgermeister von Leipzig wiedergewählt. Im November trat er vom Amt zurück. Sein Stellvertreter, ein Nationalsozialist, hatte in seiner Abwesenheit das Denkmal des jüdischen Komponisten Felix Mendelssohn-Bartholdy vom Vorplatz des Gewandhauses entfernen lassen. Er tat diesen Schritt aus Protest gegen den Antisemitismus, weil er an seine Verantwortung für die kulturelle Tradition glaubte und weil der Machtanspruch der Nationalsozialisten nun auch in seinen unmittelbaren Arbeitsbereich eindrang.
Von nun an wird erkennbar, dass Goerdeler in strikter Gegnerschaft zum Nationalsozialismus steht. Der Industrielle Robert Bosch ermöglichte ihm ausgedehnte Auslandsreisen. Goerdeler informierte die britische Regierung über die deutsche Opposition gegen Hitler und erforschte die außenpolitischen Möglichkeiten nach einem Umsturz in Deutschland. Seine Reiseberichte mit ihren immer eindringlicheren Warnungen vor dem Krieg und vor der Unterschätzung der Gegner, vor allem aber wohl die Tatsache, dass in den Schriften ein umfassendes wirtschaftliches und politisches Zukunftskonzept sichtbar wurde, haben zur Sammlung bürgerlich-liberalen und militärischen Widerstands wesentlich beigetragen und mit ihren optimistischen Ausblicken auf außenpolitische Möglichkeiten ermutigt.
Nach dem Münchener Abkommen 1938 steht sein Urteil über den Nationalsozialismus fest:
„Als Deutscher sollte ich an sich sehr zufrieden sein. Ich weiß jedoch, daß diese Diktatoren nichts als Verbrecher sind. … der Hitlerismus ist Gift für die deutsche Seele. Hitler ist fest entschlossen, das Christentum zu zerstören. … Nicht Gerechtigkeit, Vernunft und Anstand, sondern brutale Gewalt werden die Zukunft der Weltformen. „
Goerdeler vertrat eine klare Konzeption über Ziel und Methode des Umsturzes: Hitler und die führenden Nationalsozialisten sollten verhaftet und in einem ordentlichen Gerichtsverfahren abgeurteilt werden. In Goerdeler war die Überzeugung fest verwurzelt, dass das deutsche Volk nach Aufklärung über die Wahrheit in seiner überwältigenden Mehrheit dem Nationalsozialismus abschwören würde.
Auch wenn man die praktische Durchführbarkeit dieses Plans in Zweifel zieht, so belegen diese Gedanken doch die konsequente Ehrlichkeit der moralischen Grundüberzeugungen: Ohne Zweifel hatte sich Hitler vielfach schuldig gemacht, aber nach Goerdelers Rechtsverständnis war es Mord, den Diktator zu töten. Eine solche Tat schien ihm als erster Schritt in eine bessere Zukunft ungeeignet.
Immer wieder war Goerdeler auf der Suche nach den unentbehrlichen Mitverschwörem, Generälen, die über ausgedehnte Befehlsgewalt verfügten und bei der eigenen Truppe populär genug waren, um sie notfalls gegen Hitler und die SS führen zu können. Man kann seine Verbitterung nachvollziehen, als er wiederholt erkennen musste, dass viele hohe Militärs sich zwar über den Kriegsausgang keine Illusionen mehr machten, aber vor der letzten Konsequenz doch zurückschreckten.
So ist Goerdeler auch an jenen gescheitert, denen Herkunft und Erziehung ein moralisches Koordinatensystem vermittelt hatten, nach dem sich auch sein Weltbild einst ausgerichtet hatte. Nur – sein Lebensweg war gekennzeichnet von fortwährender Weiterentwicklung. Und im Unterschied zu vielen Generälen brachte er die Tatkraft und den Mut auf, welche die Militärs wie selbstverständlich für sich reklamierten, aber die den meisten von ihnen in den Jahren der Entscheidung fehlten.
In den politischen Zukunftsvorstellungen Goerdelers ging es vor allem anderen um die Vernichtung des totalitären Unrechtsstaates durch die Errichtung einer verfassungsmäßigen Ordnung, durch die Wiederherstellung der Freiheit der Person, durch die Neuschaffung und Sicherung des Rechtsstaates. Unverkennbar ist aber auch, daß er einen Sonderweg suchte, der sich unterschied vom westlichen Ideal der pluralistischen Massendemokratie. Dazu gehörten die Vorstellung einer weitgehend unabhängigen, starken Staatsführung sowie eine Mischung ständestaatlicher und demokratischer Elemente auf allen Ebenen. Der politische Wille der Bürger sollte nur zu einem Teil durch Parteien, hauptsächlich aber durch berufsständische Organisationen und die „Deutsche Gewerkschaft“ vermittelt werden.
Außenpolitisch glaubte er an die Möglichkeit eines Sonderfriedens mit den Westalliierten, in dem für Deutschland die Grenzen von 1914 mit Österreich, Südtirol und den Sudetengebieten anzustreben seien. Dies mag mit Seitenblick auf die unentbehrlichen Generäle geschrieben sein und war wohl auch als maximalistische Verhandlungsposition gedacht. Es kann aber nicht bestritten werden, dass vieles aus dem Programm Goerdelers nur aus seiner Zeit heraus zu verstehen ist und nicht als zukunftsweisend angesehen werden kann. Er war hier weit entfernt etwa von Vorstellungen innerhalb der Widerstandsgruppe „Kreisauer Kreis“, dass nämlich angesichts der ungeheuren Verbrechen im deutschen Namen die totale Niederlage und die Besetzung Deutschlands erforderlich und wünschenswert seien.
Am 8. September 1944 verurteilte der Volksgerichtshof Goerdeler zum Tode, jedoch hatte er noch fast fünf Monate auf seine Hinrichtung zu warten. Es gibt keinen Hinweis darauf, daß der Häftling mit direkter Gewaltanwendung gefoltert worden ist, doch gehörte die psychische Zermürbung, beispielsweise durch Schlafentzug, stets geöffnete Zellentüren und Dauerbeleuchtung, zu den Selbstverständlichkeiten der Gestapohaft. Niederdrückend war die Gewissheit, dass die gesamte erreichbare Familie in Sippenhaft genommen worden war.
Goerdeler verfasste im Gefängnis ausführliche Texte, darunter die „Gedanken eines zum Tode Verurteilten“. Je mehr Zeit verging, um so selbstquälerischer wurden die Rückblicke, um so drängender auch das Bedürfnis, das Leben und den nahen Tod zu bewältigen:
„Du hast das Töten verboten und benutzest es zur Erziehung? Du hast es verboten und das Attentat mißlingen lassen; aber dadurch hast Du Millionen unschuldiger Menschen zum Tode verurteilt! Die Vernunft hilft nur zur Erkenntnis, in sich selbst des Schicksals Sterne zu suchen, das Gute als Mittel und Ziel anzuerkennen, weil sonst das Leben untragbar wird, und bei Erfolg und Scheitern festzustellen, wo die Ursachen liegen, dabei den Erfolg in den Leistungen anderer suchend, das Scheitern dem eigenen Versagen zuschreibend. Sehr hart, sehr bitter, aber wenigstens aufrichtig und für die Lebenden erzieherisch – so weit bin ich heute. Und doch suche ich noch durch Christus den barmherzigen Gott. Gefunden habe ich ihn nicht.“
Am 2. Februar 1945, gegen Mittag, wurde Carl-Friedrich Goerdeler in der Haftanstalt Berlin-Plötzensee hingerichtet.
Josef Böggemann